Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast: Prügelknabe Doppelpass
(erschienen unter dem Titel „Angebot zur Teilhabe“ in der Süddeutschen Zeitung am 13. Mai 2017)
Gleich nach Deniz Yücels Inhaftierung begann die Debatte. Besäße der Journalist nicht den Doppelpass, wäre er den Fängen der türkischen Justiz entgangen, hieß es. Und seit sich die Deutsch-Türken mehrheitlich für Erdogans Präsidialreform entschieden haben, ist die Diskussion um die Hinnahme der Mehrstaatigkeit voll im Gange. Es erscheint ja auch erst einmal als bequem, sich bei der Suche nach griffigen Antworten auf einen bestimmten Teilaspekt zu konzentrieren. In Deutschland wächst die Neigung, die Lösung komplexer Problemfelder der Migrationspolitik mittels der Zuspitzung auf Schlagworte zu verengen: „Obergrenzen“ bei der Flüchtlingsfrage,  „Doppelpass“ als Prügelknabe für das Abstimmungsverhalten beim Referendum. 
Natürlich muss man sich fragen, warum die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts gerade bei den türkischstämmigen Migranten keinen wirklichen Integrationsschub bewirkt hat. Nach einer langen Epoche, in der der Staat die Einwanderung eher verwaltet als gestaltet hatte, schien ein Zeichen des Entgegenkommens an die Adresse der hier lebenden Ausländer überfällig zu sein. Mit einer ausländerfreundlichen Politik zu punkten, ist keine leichte Sache. Dass das Vorhaben jedoch in großen Teilen der deutschen Gesellschaft auf eine derart scharfe Ablehnung stoßen würde, hatten wir damals im rot-grünen Reformeifer nicht erwartet. Es war ja nicht nur der starke Zuspruch konservativer Wähler zur Anti-Doppelpass-Kampagne von Roland Koch, mit dem wir in diesem Ausmaß nicht gerechnet hatten. Auch manche SPD-Anhänger, ansonsten gegenüber gesellschaftlichen Neuerungen durchaus aufgeschlossen,  überraschten mich mit der Frage: „Warum sollen Ausländer zwei Pässe haben – und i c h  komme mit e i n e m aus?“
  Das Gesetz aus dem Jahr 2000 war dann ja auch ein mühsam ausgehandelter Kompromiss. Als „Goldener Handschlag“ wurde es nicht empfunden. Viele Deutsch-Türken betrachteten es sogar als Verschlechterung, weil nun der „Doppelpass durch die Hintertür“ wegfiel, also die Möglichkeit, nach der Einbürgerung  die türkische Staatsangehörigkeit nochmals zu erwerben. Immerhin: Ausländer konnten sich von nun an deutlich früher einbürgern lassen. Und hier geborene Migranten wurden zunächst einmal Deutsche, mussten sich allerdings zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr für die deutsche Staatsangehörigkeit oder diejenige des Herkunftslandes ihrer Eltern entscheiden. Dieses „Optionsmodell“ ist in der laufenden Legislaturperiode weitgehend aufgehoben worden. Darüber wird zurzeit gestritten.
Die heutigen Einbürgerungsbedingungen sind eine Aufforderung zur Teilhabe, aber keine Wunderwaffe gegen Diskriminierung. Nach einer aktuellen Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes senkt allein der ausländisch klingende Name eines Interessenten die Chance auf eine Wohnung beträchtlich. Die Untersuchung belegt, dass 59 Prozent der Bewerber christlichen Glaubens eine Zusage erhielten, jedoch nur 18 Prozent der jüdischen und muslimischen Interessenten. Bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen wirkt die pauschale Annahme hinderlich, dass Jugendliche mit ausländischen Wurzeln unzureichende Deutschkenntnisse und schulische Defizite mitbringen.  Der deutsche Pass ist kein Allheilmittel, aber das war auch von vornherein nicht zu erwarten.
 Und weiter: In Regionen mit hohem Anteil an Familien, die einst als Gastarbeiter aus Anatolien und „bildungsfernen“ Milieus beispielsweise ins Ruhrgebiet kamen, verfangen die Parolen und das autokratische Gebaren Erdogans. Wer sich vorwiegend aus türkischen Medien informiert, fühlt sich darin zusätzlich bestärkt. Will sagen: Die erleichterte Einbürgerung ist kein Garantieschein für die Hinwendung zu den Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaats. Hinzu kommen Frust, Abschottungstendenzen und eine gewisse Wehleidigkeit: Man sei hierzulande abgehängt. 
Das stimmt aber nur zum Teil. Zwar bedeutet „Integration“ nach konservativer deutscher Lesart die allmähliche Anpassung, die erst am Ende mit den vollen Rechten eines deutschen Staatsbürgers als krönendem Abschluss belohnt werden sollte. Solche Äußerungen erwecken bei Einwanderern den Eindruck, sie befänden sich gewissermaßen in einer langgezogenen Warteschleife bis zur gesellschaftlichen Anerkennung. Aber es gibt ja auch die andere Lesart! Sie begreift Integration als einen Prozess wechselseitiger Annäherung mit engagierten Beiträgen der Mehrheitsgesellschaft und Angeboten zur demokratischen Teilhabe. Und es gibt ja positive Signale an die Migranten, sich auf dieses Land einzulassen: Sprachförderung schon in der Kita, Bestrebungen um mehr Migranten im öffentlichen Dienst und in den Medien, Bürgerinitiativen für ein interkulturelles Miteinander, eine wachsende Zahl türkischstämmiger Parlamentarier.
Verstehen kann ich das Missbehagen daran, dass Wahlen bzw. Abstimmungen über tiefgreifende politische Veränderungen in einem anderen Staat hier mit schriller Begleitmusik stattfinden. Und es kann kein Zweifel darüber aufkommen, dass ein von Erdogan initiiertes, etwaiges Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verhindert werden muss. 
Sinnvoll wäre eine gesetzliche Klausel, die das Wahlrecht auf den ständigen Wohnsitz, also den Lebensmittelpunkt der Berechtigten beschränkt. Genauso wichtig ist es, mehr miteinander als übereinander zu reden, Gedankengänge und Gefühlsregungen auszuloten. Das geschieht immer noch viel zu selten, trotz vielfältiger Bemühungen von Menschen, die sich dann leider als Gutmenschen titulieren lassen müssen. – Es ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass wir es in mehr als fünfzig Jahren Einwanderung aus der Türkei nicht geschafft haben, die Entstehung von Ghettos zu verhindern. Dort ist „man“ weitgehend unter sich, bestätigt und bekräftigt sich gegenseitig in seinen Meinungen über die Türkei und die Eigenheiten der deutschen Gesellschaft.   
Jedoch: Die Einbürgerung erschweren, den Doppelpass abschaffen? Die „Uneinsichtigen“ abstrafen? Nein. Das ist keine Lösung. Vergessen wir nicht: Migranten aus EU-Staaten wird Mehrstaatigkeit gewährt. Türkischstämmige und andere Migranten würden zu Einwanderern Zweiter Klasse degradiert. Auf Seiten der Deutschtürken würde das Gefühl, hierzulande nicht gewollt zu sein, nur gesteigert – mit allen Konsequenzen weiterer Abschottung. Sie könnten sich in ihrer Opfer-Rolle einnisten. Und wären umso weniger bereit zu der selbstkritischen Frage, was denn sie selbst zur besseren Einbettung in die deutsche Gesellschaft tun könnten. Das kann kein vernünftiger Mensch wollen.  

    
 
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